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Am 31.10.2020 haben wir - das sind Dr. Amrei Bahr, PD Dr. Kristin Eichhorn und Dr. Sebastian Kubon - auf Twitter die Aktion #95vsWissZeitVG gestartet, die enorme Resonanz gefunden hat: Wissenschaftler_innen haben in assoziativer Anspielung auf den Reformationstag tagelang gemeinsam Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und seine problematischen Effekte gesammelt. Manche Kritik betrifft nicht nur das spezifische Gesetz, sondern geht darüber hinaus und adressiert die prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft im Allgemeinen. Die Thesen (es waren weit mehr als 95) haben wir gesichtet, thematischen Parallelen durch Zusammenfassungen Rechnung getragen, die Resultate sortiert und redaktionell überarbeitet. Das Ergebnis sind die folgenden 95 Thesen. Herzlichen Dank an alle, die sich an der Aktion beteiligt haben! Wer die Twitter-Thesen im Einzelnen nachlesen möchte, findet sie unter dem Hashtag #95vsWissZeitVG mit ihren Urheber_innen. Ein Interview zur Aktion, das Jan-Martin Wiarda mit Dr. Sebastian Kubon geführt hat, ist hier nachzulesen. 

Unsere Quintessenz der 95 Thesen findet sich als Gastbeitrag auf dem Blog von Jan-Martin Wiarda.

Unser Buch zum Thema mit den 95 Thesen ist seit September 2021 erhältlich!

A. Konsequenzen für die Wissenschaft und den Wissenschaftsstandort Deutschland 

Verschwendung von Steuergeldern und Human Resources 
  1. Das WissZeitVG verschwendet Unmengen von Steuermitteln. Es zwingt das Wissenschaftssystem dazu, seine wertvollsten Investitionen – hervorragend ausgebildete Expert_innen – spätestens nach zwölf Jahren aufgrund von sachfremden, zufällig ausgewählten Umständen zu entlassen und so indirekt (wegen Mangels an unbefristeten Stellen) mit einem Einstellungsverbot zu belegen. Das WissZeitVG führt so zu einer systemischen Verbrennung von Kompetenz durch ständigen Personalaustausch und zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems. In der freien Wirtschaft wäre dieses Vorgehen aufgrund seiner frappierenden Ineffizienz undenkbar: Kein Unternehmen würde nach 12 Jahren seine Mitarbeiter_innen entlassen, obwohl sie Leistung bringen und das Unternehmen immens in sie und ihre Qualifikation investiert hat.
  2. Das WissZeitVG verhindert jegliches effektives Management, denn es steht auf verschiedenen Ebenen der dafür erforderlichen Planungssicherheit entgegen. Wissenschaftler_innen fehlt diese Planungssicherheit im Hinblick auf ihre Karriere und ihr Leben. Für Studierende wirkt sich die fehlende Planungssicherheit auf die Lehr- und Prüfungsqualität aus. In der Forschung verhindert mangelnde Planungssicherheit nachhaltige profilbildende Wissenschaft.
  3. Das WissZeitVG führt oft bereits vor dem Ausschöpfen der individuellen Höchstbefristungsdauer zu einem Brain Drain in der Wissenschaft, weil es die Planbarkeit von Lebensläufen verhindert: Qualifizierte Wissenschaftler_innen wechseln ins Ausland, weil in Deutschland lange Zeit nicht absehbar ist, ob sie überhaupt eine langfristige Perspektive im Wissenschaftsbetrieb haben werden. Ausländischen Kolleg_innen kann man das Gesetz ohnehin kaum erklären – sie sind darüber zu Recht fassungslos.
  4. Dank WissZeitVG sind die Befristungsquoten in der Wissenschaft sehr viel höher als in anderen Bereichen, in denen hochqualifiziertes Personal arbeitet und wo nur das Teilzeit- und Befristungsgesetz anwendbar ist, das sehr viel strengere Maßstäbe setzt. Während 2019 knapp 12% der in Deutschland abhängig Beschäftigten befristet waren, geht die Wissenschaft einen Sonderweg mit derzeit 78% befristetem Personal.
  5. Das WissZeitVG bewirkt das Gegenteil des Intendierten, denn es verhindert unbefristete Anstellungen, statt Entfristungen zu fördern. Es sorgt dafür, dass sich Verwaltungen keine Gedanken über den Aufbau nachhaltiger Stellen machen müssen. Inzwischen steht das Gesetz so sehr für die Sicherung der Befristungspraxis in der Wissenschaft, dass Kritik daran regelmäßig Gegenargumente hervorruft, die mit fragwürdigen Prämissen zu begründen suchen, warum man in der Wissenschaft weiterhin Befristung brauche (vgl. Bayreuther Erklärung der Universitätskanzler_innen).
  6. Die potentielle Verlängerung der WissZeitVG-Fristen aufgrund von Corona beweist, dass alle längst wissen, dass das WissZeitVG Wissenschaftler_innen schadet und nicht hilft. Erst die Existenz des Gesetzes macht entsprechende Härtefallregelungen überhaupt nötig. Da die Verlängerung eine bloße Kann-Verlängerung ist, können Wissenschaftler_innen zudem nicht sicher damit rechnen, dass ihre Universitäten ihre Arbeitsverhältnisse auch entsprechend verlängern.
Konsequenzen für wissenschaftliche Qualität / Mainstreaming von Wissenschaft
  1. Das WissZeitVG schadet allem, was wissenschaftliche Exzellenz in einer Forschungsgemeinschaft ausmacht: der Vielfalt der Forschenden und Perspektiven, der Sorgfalt in der Forschung, der Hochschullehre sowie einer Kultur der Kollaboration, Innovation und Nachhaltigkeit.
  2. Gute Wissenschaft braucht Zeit und Freiraum, Gedanken zu verfolgen und auch in Sackgassen rennen zu dürfen, um danach neu zu beginnen. Kurz befristete Kettenverträge und das drohende Ende der Karriere nach Erreichen der Höchstbefristungsdauer machen dies für das Gros deutscher Wissenschaftler_innen unmöglich. Wer sich mit schwierigen Fragestellungen beschäftigt, die für die Gesellschaft hochrelevant sein können, wer innovativ ist, neue Wege sucht und auch Umwege geht und Verschiedenes ausprobiert, der benötigt Zeit und bekommt so mitunter Probleme mit dem WissZeitVG.
  3. Der Zeit- und Karrieredruck, den das WissZeitVG aufbaut, sorgt in der Forschung nicht für mehr gute Ideen, Risikowillen und Qualitätsoutput, sondern für Verflachung, Markt- und Diskurskonformität und Orientierung an einer fragwürdigen Aufmerksamkeitsökonomie. Das WissZeitVG führt dazu, dass viele auf Mainstreamthemen setzen, um ihre Chancen auf Weiterbeschäftigung zu erhöhen, statt innovativen Forschungsideen nachzugehen.
  4. Wer wegen des WissZeitVG zu schnell forschen muss, muss meist zu schlecht forschen. Das Damoklesschwert von Kurzzeitverträgen und Höchstbefristungsdauer in der Wissenschaft gefährdet ergebnisneutrale, wahrheitsorientierte Forschung.
  5. Das WissZeitVG kehrt die Logik von Zeitlichkeit und Forschung auf fatale Weise um: Ein Forschungsprojekt ist nicht dann beendet, wenn es fertig ist, sondern wenn Projektfinanzierung oder Arbeitsvertrag auslaufen.
  6. Befristung wirkt sich negativ auf Projekteergebnisse aus, da während der Projektarbeit schon das nächste Projekt entstehen und beantragt werden muss.
  7. Dank WissZeitVG müssen viele Wissenschaftler_innen in der Zeit, die sie sonst für Forschung, Lehre oder Wissenschaftskommunikation zur Verfügung hätten, eine Bewerbung nach der anderen schreiben. Denn ihre Arbeitsverträge sind befristet und deren Laufzeiten kurz, mitunter weniger als ein halbes Jahr lang.
  8. Die Projektkultur führt erfahrungsgemäß häufig dazu, dass Anträge für bereits mehr oder weniger abgeschlossene Projekte gestellt werden müssen, da die Temporalitäten von Projektkultur und guter Wissenschaft nicht zusammenpassen.
  9. Das WissZeitVG zementiert unsinnige und ineffektive Strukturen durch ständige Aufgaben- und Personalwechsel. Kaum ein Projekt wird von Anfang bis Ende durch ein Team fertiggestellt, da alle auf dem Sprung sind.
  10. Förderlinien von BMBF und Stifterverband laufen mittelfristig ins Leere, da das WissZeitVG eine Verstetigung von erarbeitetem Wissen, Kooperationen und institutionellen Vernetzungsstrukturen verhindert.
  11. Das Fehlen einer langfristigen Perspektive und die ständigen Wechsel wirken sich negativ auf die Identifikation der Einzelnen mit der jeweiligen Universität und somit auf die universitäre Profilbildung aus. Sie führen zugleich zur Anpassung an Erwartungen und verstärken die Abhängigkeit von Vorgesetzten.
  12. Durch das WissZeitVG dominiert in der Wissenschaft Konkurrenzdenken und Einzelkämpfertum. Langfristige Kooperationen können nur begrenzt aufgebaut werden. Vorbildliche Ansätze werden nach dem Vertragsende ihrer Initiator_innen nicht weiterverfolgt.
  13. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass viele junge Menschen das WissZeitVG aushalten, weil sie passioniert sind, ihren Job lieben, lehren und forschen möchten. Dies würde zu einer hohen Qualität der Forschung und Lehre führen, gäbe es nicht die Bremse der Existenzängste, Befristungen etc.
  14. Das WissZeitVG bremst Forschung aus, weil sie nicht mittel- und langfristig entwickelt werden kann. Das geht nicht nur zulasten der Forschenden, sondern kostet auch mehr Geld für das System und bringt weniger Erträge.
  15. Mit befristeten Verträgen lässt sich keine langfristige Forschungsdatenmanagement-Infrastruktur aufbauen.
  16. Unbefristet forschen heißt auch, dass man Projekte oder Forschungszentren (mit)aufbaut, Studiengänge auf die Beine bringt, Doktorand_innen und generell lange Projektvorhaben betreuen kann. Wer will/kann das alles machen, wenn man weiß, man ist bald woanders?
  17. Ausgerechnet in der Wissenschaft wird die These, die dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz zugrunde liegt, nicht hinterfragt, dass "neue" und "junge" Köpfe automatisch mehr Innovationen ins System bringen. Diese Aussage ist in ihrer Pauschalität angreifbar und lässt zudem die Wirkung der systemimmanenten Prozesse außer Acht, die eher Anpassung als Innovation belohnen.
Das unsinnige Prinzip „up or out“ 
  1. Das WissZeitVG befeuert das Alles-oder-Nichts-Prinzip des deutschen Wissenschaftsbetriebs: Wer keine Professur erhält, fällt aufgrund der Höchstbefristungsdauer früher oder später aus dem System heraus. Viele Wissenschaftler_innen streben aber nicht unbedingt eine Professur an.
  2. Viele der durch das WissZeitVG aus dem System ausscheidenden Wissenschaftler_innen sind hochqualifiziert. Der qualitative Abstand der wenigen, die eine Professur bekommen, zu den vielen, die ohne Professur bleiben, ist in Bereichen mit starker Konkurrenz allenfalls minimal.
  3. Nicht jede_r wird Professor_in werden. Das ist auch nicht weiter tragisch, da der Wissenschaftsbetrieb nicht allein Professor_innen benötigt, um zu funktionieren. Nicht-Professor_innen bedürfen aber ebenfalls eines sicheren Umfeldes. Werden basale Sicherheitsbedürfnisse dieser Personen nicht erfüllt, beschädigt dies eine Generation von Wissenschaftler_innen.
Attraktivitätsverlust der wissenschaftlichen Karriere
  1. Wissenschaft als Beruf hat aufgrund des WissZeitVG extrem an Attraktivität eingebüßt. Nach hervorragenden Examensprüfungen winken viele müde ab auf die Frage, ob sie eine Promotion anstreben. In einigen Fachbereichen herrscht bereits Fachkräftemangel und die Universitäten sind in Bezug auf die dort angebotenen Arbeitsverhältnisse im Vergleich mit der Privatwirtschaft nicht mehr konkurrenzfähig. Wer berufliche Sicherheit/Perspektive braucht (subjektiv oder existenziell), verlässt früher oder später die Wissenschaft – egal, wie gut er/sie ist.
  2. Man kann niemandem eine wissenschaftliche Laufbahn empfehlen. Ungewissheit, Unvereinbarkeit und kompetetiver Individualismus haben Dauercharakter dank WissZeitVG im akademischen Betrieb.
Das Gesetz läuft dem Prinzip der Bestenauslese zuwider
  1. Das WissZeitVG sichert einen längst überholten Status quo. Es nimmt dem sogenannten ‚Nachwuchs‘ Chancen und den Einrichtungen und Vorgesetzten die Möglichkeit, die Besten zu beschäftigen.
Image der Wissenschaft
  1. Das WissZeitVG spiegelt letztlich die Geringschätzung von Wissenschaft in Politik und Gesellschaft wider. Diese Wissenschaftsfeindlichkeit führt nicht zuletzt auch in der gegenwärtigen Corona-Krise zur teilweisen Verachtung der Wissenschaftler_innen. Im besten Fall wird man dafür ausgelacht, als hochqualifizierter Mensch unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Das WissZeitVG entwertet so letztlich eine ganze Branche als Arbeitgeber und damit auch die Arbeit selbst.
  2. Aufgrund des WissZeitVG verspielt die Wissenschaft Legitimation gerade in wissenschaftsfernen Bereichen. Wer über das WissZeitVG diskutiert, muss über den gesellschaftlichen Wert von Wissenschaft und die Bereitschaft zu ihrer angemessenen Finanzierung diskutieren.
Förderung von Misstrauen und Vetternwirtschaft, Erzeugung von künstlicher Konkurrenz
  1. Der enorme Konkurrenzdruck im befristeten Mittelbau zerstört Kollegialität – sowohl Freundschaft, die für die Psyche wichtig ist, als auch Teamarbeit, die das ganze Institut voranbringen würde. Viele der nettesten Kolleg_innen sind auch die, die um denselben Job kämpfen. Wissen teilen mit Kolleg_innen? Lieber nicht dank künstlicher Konkurrenz durch das WissZeitVG.
  2. Das WissZeitVG führt zu einem dem Wissenschaftsdiskurs und letztlich dem Gemeinwohl abträglichen Egoismus, weil nahezu jede_r irgendwann seine Ideale verliert und notgedrungen nur an sich selbst denkt. Die Produktivität von Forschung als Gemeinschaftsprojekt bleibt dadurch auf der Strecke.
  3. In der Wissenschaft ist eine Misstrauenskultur inzwischen tief verankert. Der Versuch, alles zu kontrollieren, führt indes nicht zum Abbau von Vetternwirtschaft. Denn je unsicherer die Karrierewege, desto mehr suchen die Betreffenden Schlupflöcher und brauchen Beziehungen.
  4. Das WissZeitVG beruht im Kern auf der Unterstellung, dass junge Wissenschaftler_innen nur durch Befristung zu Motivation und Mobilität zu bewegen seien. Es ist ein Ausdruck des Misstrauens gegenüber dem Arbeitswillen und dem Forschungsinteresse unbefristeter Wissenschaftler_innen.

B. Fehler des WissZeitVG 

Fehler des Gesetzes in Ziel- und Umsetzung
  1. Das WissZeitVG unterscheidet bei der Berechnung der Befristungsdauer nicht zwischen Vollzeit- und Teilzeitstellen.
  2. Die üblichen Teilzeitstellen nach WissZeitVG legen nahe, dass Qualifikation im Rahmen der übrigen Zeiten (= Freizeit) unterzukommen hat und nicht eigentlicher Sachgrund der Befristung und wesentlicher Teil der Beschäftigung ist.
  3. Es ist nicht sichergestellt, dass das Stellenprofil so ausgelegt ist, dass die Arbeit an der eigenen Weiterqualifikation tatsächlich während der Arbeitszeit möglich ist und einen prozentualen Umfang hat, der eine Qualifikation im gegebenen Zeitraum möglich macht.
  4. Es gibt keine realistisch nutzbaren rechtlichen Mechanismen, die sichern, dass die angesetzte Qualifikationszeit auch Zeit zur Qualifikation gibt und nicht weitere Dienstpflichten priorisiert werden müssen. Die Personalunion Betreuer_in und Vorgesetzte_r verschärft das.
  5. Der Qualifikationsbegriff des WissZeitVG ist – gerade in der Postdoc-Phase – sehr dehnbar. Viele der vermeintlichen Qualifikationsstellen sind tatsächlich Stellen zur Sicherung des Lehrangebots, einer Daueraufgabe der Hochschulen.
  6. Das WissZeitVG war wesentlicher Baustein beim Outsourcing von TVL-Fähigkeiten in TVstud – weil dadurch ein für Arbeitgeber_innen weniger restriktiver Befristungsrahmen genutzt werden konnte, als für nichtwissenschaftliche Tätigkeiten vorgesehen ist. Auch werden immer wieder nichtwissenschaftliche Tätigkeiten als wissenschaftliche definiert, um das WissZeitVG zur Anwendung bringen zu können.
  7. Das WissZeitVG lässt unterschiedliche Fachkulturen, wie Publikationsprozesse und -zeiten, in den unterschiedlichen Disziplinen unberücksichtigt. Die Dauer bis zur Veröffentlichung einer Studie kann je nach Fach zwischen zwei bis drei Monaten oder bis zu fünf Jahren variieren.
  8. Das WissZeitVG ist kompliziert. Viele Professor_innen, die die Einstellungspolitik betreiben, kennen sich angesichts der komplexen Rechtslage zu wenig aus. In der Folge werden erfolgreiche Bewerber_innen wegen Fehlern von Kommissionen nicht eingestellt oder weil Mitarbeitende als Risiko gelten, da sie sich auf unbefristete Stellen einklagen könnten. Dies gilt selbst dann, wenn die Betreffenden die Gelder für ihre Stelle selbst eingeworben haben.
  9. Es herrschen gravierende Unterschiede zwischen der Auslegung des Gesetzes an verschiedenen Universitäten – etwa hinsichtlich der Frage, welche Zeiten angerechnet werden und welche nicht. Dadurch wird das Gegenteil von Rechtssicherheit erreicht; erzeugt werden stattdessen (ungewollte) standortabhängige Vor- und Nachteile für die Beschäftigten.
  10. Auch dass Zeiten der Drittmittelbefristung ohne Qualifikationsanteil, Stipendienzeiten und Promotionsstudienzeiten neben Zeiten mit Anstellung ohne Unterschied regelmäßig in die Höchstbefristungsdauer eingerechnet werden, ist ein Skandal. Das WissZeitVG ist ein Gesetz, das Rosinenpicken erlaubt in einem asymmetrischen Machtgefälle zu Ungunsten der Wissenschaftler_innen.
Fehlanreize bzw. mangelnde Anreize
  1. Das WissZeitVG setzt den irrsinnigen Anreiz, den Abschluss der Qualifikation strategisch hinauszuzögern, um die 12 Jahre auszureizen, auch wenn man früher fertig werden könnte, weil mit dem Abschluss der Befristungsgrund entfällt.
  2. Das Bangen um Verlängerung fördert Selbstdarstellung und Networking, nicht qualitativ hochwertige Forschung und Lehre. Wissenschaftskommunikation zu lieben und sie gerne zu machen hat im WissZeitVG keinen Raum. Wissenschaftler_innen sind gezwungen, stattdessen die Dinge zu priorisieren, die Qualifikationsarbeiten voranbringen oder den nächsten Vertrag wahrscheinlicher machen.
  3. Paradox: Es gibt keinerlei Prüfung der wissenschaftlichen Leistungen bei Verlängerungen (oder Nicht-Verlängerungen), denn nach WissZeitVG ist gute Arbeit gar kein Kriterium. Es zählt nur, ob man rechtskonform verlängert werden kann oder nicht.
  4. Das WissZeitVG ist Teil eines Systems, das Engagement in der Lehre und gründliche wissenschaftliche Arbeit nicht fördert, weil sich beides nachteilig auf die Karriere auswirken kann, für die vorrangig (viel) Forschungsoutput zählt.
  5. Das WissZeitVG bedeutet, sich schon vor dem (potentiellen) Beginn der eigenen wissenschaftlichen Karriere Gedanken um das Danach zu machen.
  6. Das WissZeitVG ist eine zentrale Ursache dafür, dass sich die Frage des Verbleibs in der Wissenschaft zumeist erst sehr spät (mit Mitte 40) entscheidet, weil es die Selektion hinauszögert.
  7. Das WissZeitVG betrachtet die PostDoc-Zeit als Phase und nicht als Beruf, dabei beweist schon die Promotion die Befähigung zum selbstständigen Arbeiten.

C. Konsequenzen für Studierende

Diskontinuität bei Ansprechpartner_innen
  1. Studierende haben durch das WissZeitVG kaum konstante Ansprechpartner_innen. Oftmals können Abschlussarbeiten nicht betreut werden, weil Verträge auslaufen. Dank WissZeitVG ist keine kontinuierliche Betreuung von Studierenden möglich. Individuelle Beratung läuft so ins Leere. Wer besonders benachteiligt wird, sind Studierende ohne akademisches Elternhaus und Wissenschaftler_innen, die sich für sie engagieren.
  2. Auslaufende Stellen zum Ende des Semesters führen dazu, dass angesammelte Hausarbeiten und Abschlussarbeiten häufig auch nach Auslaufen der Stelle von den Dozent_innen korrigiert werden müssen, ohne dass dafür eine Bezahlung erfolgt – obwohl dies rechtlich nicht zulässig ist. Kolleg_innen oder Nachfolger_innen können die Korrektur oft nicht übernehmen, weil sie selbst überlastet oder (noch) nicht hinreichend in die Thematik eingearbeitet sind.
Verhinderung von Qualitätssicherung in der Lehre
  1. Das WissZeitVG trägt zur Verhinderung einer nachhaltigen Qualitätssicherung universitärer Lehre bei. Kontinuierlich gute Lehre ist nicht möglich, da man dafür Erfahrung braucht und Unterrichtskonzepte ausprobieren sowie gegebenenfalls anpassen muss und neue Lehrende immer wieder von vorne damit anfangen.
  2. Auch Hochschuldidaktik ist eine Daueraufgabe, wird aber nach WissZeitVG befristet.
  3. Das WissZeitVG führt dazu, dass Lehre und Kommissionsarbeit karriereschädlich sind, da sie im Vergleich zu Bereichen wie Publikationsoutput und Drittmitteleinwerbung bei Stellenbesetzungen eher als nachrangig gelten und de facto vernachlässigt werden müssen.

D. Konsequenzen für Wissenschaftler_innen

Ausnutzung des Engagements von Wissenschaftler_innen
  1. Die Bereitschaft zur Mehrarbeit in der Hoffnung, nicht aus dem Beruf ausscheiden zu müssen, wird auch in der Bemessung von Lehrverpflichtungen entfristeter Hochdeputatsstellen ausgenutzt: Das WissZeitVG treibt indirekt das Lehrdeputat der (wenigen) entfristeten Stellen nach oben. Weil diese so rar sind, erklären sich Wissenschaftler_innen zu einem die Arbeitszeit von 40 Stunden meist deutlich überschreitenden Hochdeputat von 16 bis 24 SWS bereit, um nicht aus ihrem Beruf ausscheiden zu müssen.
  2. Wer sich beim Verfassen von Anträgen engagiert, um die eigene Perspektive zu sichern, hat keinerlei Garantie, dass das Engagement sich auszahlt: Mitautor_innen von Anträgen müssen damit rechnen, dass ihnen die Personalabteilungen keinen Vertrag ausstellen bzw. verlängern – aus Angst vor Kettenverträgen und den damit einhergehenden Klagen.
  3. Das WissZeitVG führt dazu, dass wissenschaftliche Beschäftigte selbst nach jahrelanger Tätigkeit als „Nachwuchs“ bezeichnet werden und ihre Arbeit als Eigenqualifikation, nicht als gesellschaftsrelevante Leistung in Forschung und Lehre verstanden wird.
  4. Das WissZeitVG sorgt dafür, dass entfristete wissenschaftliche Mitarbeiter_innen als Störfaktor im Getriebe der Uni wahrgenommen werden, da sie als zu teuer gelten und nicht mehr beliebig austauschbar sind. Die Expertise erfahrener wissenschaftlicher Mitarbeiter_innen wird nicht genug wertgeschätzt.
  5. Wissenschaftler_innen pendeln auf befristeten Stellen dienstags, mittwochs und donnerstags an Hochschulorte, ohne dort nachhaltige Netzwerke außerhalb des Elfenbeinturms aufbauen zu können. Soziales und politisches Engagement sowie Wissenschaftskommunikation vor Ort sind so nicht möglich.
  6. Wenn das Drittmittel-Projekt fertig werden muss, muss so viel Arbeitszeit investiert werden, wie es eben braucht. Sonst gilt das als Scheitern. Dadurch wird die ohnehin knappe Zeit für die Qualifikation nebenher auch noch knapp, sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft.
Risiko von Machtmissbrauch durch Vorgesetzte und Verwaltungen
  1. Die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sind weder hinsichtlich einer gesicherten, an Kompetenzen und Erfahrungen orientierten angemessenen Vergütung noch hinsichtlich ihrer erwartbaren Dauer verlässlich: Passen die Verträge nicht ohne Unterbrechung aneinander, kommt es vor, dass eine Universität den wissenschaftlich Beschäftigten alle vorherigen Erfahrungsstufen aberkennt und sie trotz mehrerer Jahre Berufserfahrung wieder mit einem Anfänger_innengehalt bezahlt.
  2. Die einzige Verstetigung, die das WissZeitVG bewirkt, betrifft die Asymmetrie zwischen all denen, die als „Nachwuchs“ keine Professur inne haben, und Wissenschaftler_innen mit Professur auf Lebenszeit.
  3. Das WissZeitVG fördert innerhalb dieser Asymmetrien toxische Arbeitsbeziehungen und schürt Interessenskonflikte zu Ungunsten der wissenschaftlich Beschäftigten, da Vorgesetzte (die vielfach zugleich Betreuende sind) bei Konflikten immer mit der Nichtverlängerung oder Verweigerung einer Weiterförderung drohen können.
Erschwerter Übergang in die Wirtschaft
  1. Das WissZeitVG erschwert einen reibungslosen Übergang in die freie Wirtschaft. Die häufigen Stellenwechsel, wechselnden Stellenbezeichnungen oder sogar Pausen zwischen zwei Verträgen werden im Lebenslauf außerhalb des Elfenbeinturms als Stigma betrachtet.
  2. Das WissZeitVG setzt durch die Dauerqualifikation den Anreiz zu fortwährender Wiederanstellung, bis ein Alter und eine Qualifikation erreicht sind, die sich nachteilig auf eine Berufsperspektive außerhalb der Universität auswirken. Durch die aktuelle Struktur werden die besten eines Jahrgangs systematisch verbrannt.
  3. Das WissZeitVG zwingt einen dazu, alles auf die Karte Wissenschaft zu setzen und sich zu hyperspezialisieren. Die Aneignung von Kompetenzen, die außerhalb der Wissenschaft gefragt sind, wird im akademischen Betrieb maximal als Hobby betrachtet. Sie fressen dann Zeit für die Aufgaben, die in der Wissenschaft als Qualifikation gewertet werden. Sie werden innerbetrieblich darüber hinaus oft als mangelnde Loyalität und Opferbereitschaft für die Wissenschaft gelesen.
Folgen für die private Lebensplanung
  1. Das WissZeitVG ist kinder- und familienfeindlich. Es führt zum Aufschub der Familienplanung oder zum Verzicht auf Familiengründung aufgrund der mangelnden Planbarkeit der eigenen Zukunft. Für viele heißt die Entscheidung: Karriere in der Wissenschaft ODER Familie. Im schlimmsten Fall ist man am Ende aber arbeits- UND familienlos.
  2. Wer dennoch Kinder hat, wird durch die Erwartung an entgrenzte Arbeit abgehängt. Das WissZeitVG bestraft Eltern (und insbesondere Mütter) und verhindert einen gerechten Zugang bzw. eine gerechte Teilhabe am akademischen Betrieb. Wer nichtsdestotrotz Familie und eine Stelle in der Wissenschaft hat, lässt viel zu oft viel zu viel auf der Strecke und lebt in ständiger Unzufriedenheit und mit großem Schuldgefühl.
  3. Das WissZeitVG ist belastend für junge Familien, solange die Familienkomponente, Verlängerung der Frist um zwei Jahre pro Kind, nur als Kann-Bestimmung angewandt wird.
  4. Familien haben keinen festen Standort und werden durch die erzwungene Mobilität immer wieder entwurzelt. Während andere mit Mitte 30 ein Haus bauen, können Angestellte im Mittelbau dies weder finanzieren (befristet Angestellte erhalten auch keinen Kredit in der erforderlichen Höhe) noch ist der zukünftige Lebensmittelpunkt geklärt.
  5. Das WissZeitVG führt Betroffene in die Altersarmut. Durch Teilzeitverträge und Beschäftigungslücken sowie die lange Phase der Unsicherheit werden weniger Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt. An eine zusätzliche private Absicherung ist nicht zu denken.
  6. Das WissZeitVG berücksichtigt nicht, dass zwischendurch auch mal ganz einfach das Leben passiert: Pflege von Angehörigen, Krisen wie z.B. der Tod von Freunden etc. Es gibt keine feste Regelung, wie sich Angehörigenpflege auf die Befristung auswirkt. Damit hat man nicht nur mit der Sorge um einen geliebten Menschen zu tun, sondern ist gezwungen, sich parallel weiter zu qualifizieren, um innerhalb der Frist zu bleiben.
  7. Die Finanzierung von wissenschaftlichem Nachwuchs konzentriert sich zu sehr auf die Prädoc-Ausbildung (= billige Arbeitskräfte) und vernachlässigt die Schritte danach überproportional (= falsche Versprechen).
Psychische Gesundheit und Folgen für das Gesundheitssystem
  1. Das WissZeitVG in seiner jetzigen Form ist Ausdruck der Ideologie, dass nur Leistung bringen kann, wer Angst hat. Diese Auffassung widerspricht dem Stand der Forschung der Motivations- und Arbeitspsychologie: Angst blockiert Kreativität, während Sicherheit, Sinn und Selbstbestimmung für höhere und bessere Arbeitsleistungen sorgen.
  2. Das WissZeitVG ist ein Misstrauensbeweis gegenüber Wissenschaftler_innen, da der Gesetzgeber glaubt, sie mit Druck und Existenzängsten zum Arbeiten motivieren zu müssen. Das Gegenteil ist der Fall: Diese Ängste lenken von den eigentlichen Tätigkeiten ab.
  3. Das WissZeitVG löst ernsthafte Zukunftsängste aus. Dauerhafte Befristung macht (Existenz-)Angst. Angst macht krank! Das WissZeitVG schadet der Gesundheit und fördert Burnout und depressive Störungen. Gleichzeitig hält die Hoffnung auf Verbeamtung Betroffene davon ab, sich ärztliche Hilfe zu suchen.

E. Konsequenzen für Bürokratie, Verwaltung und Sozialkassen – Forschung auf ALG I und II

Aushöhlung des Arbeitsrechts
  1. Das WissZeitVG erschwert es wissenschaftlich Beschäftigten, ihre Interessen zu vertreten, weil Gremienarbeit durch den ständigen Personenaustausch erschwert wird. Dies behindert auch eine gewerkschaftliche Organisation.
  2. Befristete Verträge bieten die Möglichkeit, die geltenden Regelungen zum Kündigungsschutz zu umgehen, weil Verträge automatisch auslaufen und die Verlängerung einen neuen Vertragsschluss erfordert. Selbst besonders schutzbedürftige Personen, die auf unbefristeten Stellen aus gutem Grund nicht kündbar wären (Schwangere, Erkrankte), haben bei Befristung als Normalfall keinen Anspruch auf Weiterbeschäftigung.
  3. Das WissZeitVG begünstigt unbezahlte Mehrarbeit, hinter der die verzweifelte Hoffnung steckt, dass ‚Leistung‘ in die Professur führt – eine Hoffnung, die sich für den Großteil befristeter Wissenschaftler_innen nicht erfüllen wird.
  4. Das WissZeitVG kann zudem indirekt als Disziplinarmaßnahme und als verlängerte (oder dauerhafte) Probephase instrumentalisiert werden, weil ständig die Bewährung für die Verlängerung eingefordert wird.
Belastung der Sozialkassen 
  1. Trotz ihrer hohen Qualifikationen droht Wissenschaftler_innen aufgrund des WissZeitVG regelmäßig die Arbeitslosigkeit. Wenn sich Verträge mit kurzen Laufzeiten und Stipendien abwechseln, ist der Anspruch auf Arbeitslosengeld I aufgrund der Kürze der Arbeitsverhältnisse verkürzt oder entfällt sogar ganz.
  2. Dank WissZeitVG wird auch die Zentralunterstützungskasse für notleidende Hochschullehrer (ZUK) des Deutschen Hochschulverbands nicht überflüssig werden, im Gegenteil.
  3. Arbeitsverhältnisse enden regelmäßig vor dem Erreichen von Qualifikationszielen, sodass Qualifikationsarbeiten in der Arbeitslosigkeit abgeschlossen werden – auch wenn die ursprüngliche Stelle weiter fortbesteht. Forschung in Deutschland wird regelmäßig durch Arbeitslosengeld und Sozialleistungen ‚zwischenfinanziert‘, weil Lücken zwischen Verträgen auf diese Weise geschlossen werden müssen. Dadurch werden die Sozialkassen unnötig belastet.
  4. Die psychologischen Folgekosten des WissZeitVG belasten das Gesundheitssystem.
Das WissZeitVG produziert unnötige Bürokratie
  1. Das WissZeitVG führt zu sehr viel Bürokratie, weil ständig neue Arbeitsverträge ausgestellt und Bewerbungsverfahren durchgeführt werden müssen. Teil der bürokratischen Bürden ist die Unsicherheit aufseiten der Hochschulverwaltungen: Aus Angst vor Klagen werden Einstellungen oft geschoben oder verhindert; Verfahren werden häufig aus rechtlichen Unsicherheiten eingestellt.
  2. Wissenschaftler_innen müssen sich immer wieder unnötig arbeitslos melden, weil sie ihren (oft schon zugesagten, aber durch verzögerte Verwaltungsprozesse noch nicht ausgestellten) neuen Vertrag noch nicht haben und der alte in drei Monaten ausläuft. Dies führt zu unnötiger Bürokratie.

F. Konsequenzen für Chancengleichheit, Gleichstellung und Inklusion

  1. Die Publikationsliste hat direkte Auswirkungen auf Karrierechancen in der Wissenschaft. Wer aber kann gut veröffentlichen mit befristeten Verträgen, Vertretungen oder unbezahlten Privatdozenturen? Die Unsicherheit, die das WissZeitVG produziert, muss man sich finanziell eben leisten können. Dies führt dazu, dass nicht-privilegierte Gruppen es weiterhin nur in Ausnahmefällen bis zur Professur schaffen werden.
  2. Aufgrund der Unsicherheit, die das WissZeitVG mit sich bringt, steigen überproportional viele Frauen aus dem Wissenschaftsbetrieb aus. Das WissZeitVG macht es möglich, Eltern, davon meist die Frauen, in Elternzeit zu benachteiligen. Ausfallzeit kann nämlich u.U. nur kostenneutral angehängt werden. Was, wenn eine Vertretung aber unabdingbar ist?
  3. Das WissZeitVG ist auch eine Frage von Klassismus und Chancengleichheit. Wenn wissenschaftliche Karrieren eine unsichere Perspektive bleiben, werden sie auch zukünftig tendenziell nicht von Arbeiterkindern angestrebt. Das WissZeitVG fördert somit Klassenunterschiede: Wer kann es sich leisten, unter- oder gar unbezahlt zu sein? Der deutsche Wissenschaftsbetrieb kann unter diesen Umständen niemals eine Meritokratie sein. Das Gesetz führt im Übrigen dazu, dass es für Promovierende aus Nicht-Akademikerfamilien noch schwieriger wird, den „Arbeitsplatz Universität“ mit seinen eigenwilligen „Regeln“ der Familie zu vermitteln.
  4. Das WissZeitVG ist in seinen Konsequenzen rassistisch. Black, Indigenious und People of Color haben weniger Chancen im Wissenschaftssystem.
  5. Das WissZeitVG ermöglicht bei Schwerbehinderung eine Verlängerung der maximalen Befristungsdauer, gewährleistet aber ausdrücklich keinen Anspruch darauf. Dies führt zu einer massiven Benachteiligung von Wissenschaftler_innen mit Behinderung.
  6. Die negativen Effekte des WissZeitVG hinsichtlich Diversität sind mit Quotenregelungen nicht aufzufangen. Das Problem dabei ist, dass viele eigentlich höchst geeignete Personen, die auch diversere Perspektiven und Fragestellungen einbringen könnten, das Lebensrisiko „Wissenschaft“ daher nicht eingehen werden.

10 Gedanken zu “95 Thesen gegen das WissZeitVG

  1. DANKE! Endlich wurde alles, was für meinen Frust verantwortlich ist, in verständlichen Thesen systematisch zusammengestellt.
    Das hilft übrigens auch, wenn man bei Familie oder Freunden rechtfertigen muss, warum man als „gutbezahlte/r Tarifbeschäftigte/r“ unzufrieden mit beruflicher Situation und Perspektive ist.

  2. Wundervoll, vielen Dank! Alle Gründe zusammen, warum ich nach dem Studium nicht an der Uni geblieben bin. Dabei finde ich Forschung spannend und wichtig.

  3. Vielen Dank, für eure Arbeit von den GEW Studis! Auch wir brauchen kein Sonderbefristungsgesetz, sondern Tarifverträge, angemessene Bezahlung, verlässliche Jobs, gute Lehre und planbare Karrierewege in der Wissenschaft.

    🤝

  4. Durchaus ein spannender und notwendiger Beitrag. Die allgemeine Arbeitssituation von Wissenschaftlern ist grenzwertig: Unbezahlte Überstunden, fehlende Sicherheiten, Druck von allen Seiten, extreme Bereitschaft des Ortswechsels, Publikationsdruck usw. usf. Allerdings sehe ich an den Thesen 2 „Probleme“, die ggfs. in zukünftiger Arbeit adressiert werden sollten:

    1. Die (zumindest einige) „Thesen“ basieren auf der Folge, dass das WissZeitVG längerfristige Arbeitsstellen verhindert. Dem ist aber nicht so. Die 12 Jahre gelten ausschließlich für die Qualifikationszeit. §1 Satz 2: „Unberührt bleibt das Recht der Hochschulen, das in Absatz 1 Satz 1 bezeichnete Personal auch in unbefristeten oder nach Maßgabe des Teilzeit- und Befristungsgesetzes befristeten Arbeitsverhältnissen zu beschäftigen.“ Dadurch geraten auch die folgelogischen Schlüße ins Wanken (wenn auch nicht per se falsch), da diese nicht zwangsläufig was mit dem WissZeitVG zu tun haben. Das Problem ist m.E. tiefer verwurzelt und sind eher dem deutschen Wissenschaftssystem inhärente Fehler, insb. mit dem Fokus auf das verfügbare Geld. Das Gesetz selber ist schließlich eines, dass aus demselben System geschaffen wurde.

    Solange sich die jeweilige Hoschulverwaltung nicht querstellt, ist es entsprechend dem WissZeitVG also durchaus möglich, nach den 12 Jahren – konkreter max. 6 Jahre Doktor und 6 Jahre Post-Doc/Habil – die gewünschte Person auch befristet weiter zu beschäftigen. I.d.R. lässt die Hochschuleverwaltung das aber ausschließlich mit den entsprechenden Rücklagen seitens des Lehrstuhls zu, d.h. eine Drittmittelbindung im Rahmen eines Projekts. Nach §14 Abs. 1 Nr. 7 TzBfG wäre das dann eine haushaltsrechtliche Beschränkung, die sogar beliebig oft vorgenommen werden könnte (unter bestimmten Bedingungen). Theoretisch ist es also möglich, dass die Verträge bis zum Eintritt in die Rente verlängert werden können (insofern gegenseitiges Verständnis von Mitarbeiter und Arbeitgeber).

    Allerdings haben Kettenbefristungen auch ihre Konsequenzen und der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass diese zu prüfen sind (Urteil vom 26.01.2012, Kücük, Az. C.-586/10). Entsprechend haben sich die Hochschulverwaltungen auf die Fahnen geschrieben, keine Kettenbefristungen mehr zuzulassen. Einerseits aufgrund vergangener Praktiken – weswegen es u.a. das WissZeitVG überhaupt gibt – und andererseits weil sie befürchten, dass es ggfs. doch zu einer ungeplanten entfristeten Stelle kommen könnte.

    Stellt sich also die Frage, warum dann nicht direkt entfristen? Was ist daran so schlimm? Und hier kommt m.E. dann genau der Punkt Geld ins Spiel. Wie soll die entfristete Stelle denn finanziert werden? Die Last der Finanzierung liegt i.d.R. beim Lehrstuhl selber. Entsprechend möchte sich die Hochschulverwaltung gegenüber einer solchen Stelle finanziell absichern. Gehen wir mal von TVL-13 Stufe 6 aus, kostet die Person ca. 95.000 € im Jahr. Mit 40 gibt es dann die entfristete Stelle, d.h. 27 Jahre bis zur Rente, sind 2,565 Millionen Euro. Woher soll der Lehrstuhl das nehmen, woher die Hochschule? Und warum sollte das nicht direkt in eine Professur gesteckt werden, von der i.d.R. beide Seiten profitieren?

    Das ist nicht „klugscheißerisch“ gemeint. Ich habe hier auch keine Antworten darauf. Ich sehe aber das Problem nicht bei diesem (einem) Gesetz, sondern viel mehr grundlegend darin wie das wissenschaftliche System in Deutschland aufgebaut ist und auch, welche Kennzahlen genutzt werden, um Leistung aufzuzeigen (z.B. Drittmitteleinwerbung und Anzahl Publikationen).

    Allein die Förderung von öffentlichen Projekten ist schon sehr krude. Arbeitet man „zu schnell“, werden Mittel gekürzt, weil man sie ja dann offensichtlich nicht mehr braucht. Spart man sonst durch geschickten Einsatz Gelder ein, werden diese gekürzt (bzw. müssen zurückgegeben werden). Gibt man aber zu oft Geld zurück, werden die Mittel irgendwann schon im Vorraus bei den Anträgen gekürzt. Man ist also angehalten, möglichst ineffizient zu arbeiten und die geplanten Gelder irgendwie zu verausgaben, um nicht in einer gefährlichen Spirale nach unten zu geraten. Dass das Geld dabei aber nicht zur persönlichen Belustigung genutzt wird, sondern eben um die finanzielle Sicherheit zu gewähren, dass man wissenschaftliches Personal langfristig einsetzt, bleibt dabei unberücksichtigt. Einen eventuellen Überhang zu behalten, hieße also gleichzeitg Sicherheit.

    2. Was ist der Gegenvorschlag? Meckern kann man immer, aber wo soll es hingehen und wie wird es realisiert? Ohne Alternative bleibt es leider nur etwas für die hohle Hand. Dafür ist das Thema zu wichtig.

    1. Lieber Herr Witzel,

      vielen Dank für die ausführliche Antwort. Es ist ja in der Tat so, dass es schon seit Jahren diverse Vorschläge für Reformen gibt. Man kann hier auf das Papier der Jungen Akademie verweisen (vgl. dazu gerade heute den Artikel: https://www.jmwiarda.de/2020/12/15/keine-zukunft-mit-wissenschaftszeitvertragsgesetz-keine-zukunft-f%C3%BCrs-wissenschaftszeitvertragsgesetz/) oder auf das Personalmodelle-Papier von NGAWiss, das verschiedene Varianten detailliert durchrechnet (https://mittelbau.net/diskussionspapier-personalmodelle/). Allerdings scheinen die Vorschläge nicht so recht auf fruchtbaren Boden zu fallen, solange sich Kritik an der aktuellen Gesetzeslage nicht laut genug äußert. Die Aktion #95vsWissZeitVG bringt das Thema also mit einigem Nachdruck auf den Tisch – und verschafft hoffentlich so den Reformvorschlägen Gehör, die schon zur Diskussion stehen. Wir sahen unsere Aufgabe hier erst einmal darin, die Stimmen, die sich auf Twitter zu Wort gemeldet haben, zu sammeln. Natürlich kann man dabei nicht stehen bleiben und muss auch noch an einigen Stellen mehr ansetzen als nur am WissZeitVG.

  5. Falls noch jemand Inspiration für den kommenden Herbst braucht.

    „Erfreulicherweise sehen mit der Linken (Bundestags-Drucksache Drucksache
    19/16499 vom 15.01.2020) und der FDP (Bundestags-Drucksache 19/17067 vom 10.02.2020) bereits zwei Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag die Notwendigkeit zur Gesetztesnovellierung.“
    Q: https://www.gew.de/fileadmin/media/publikationen/hv/Hochschule_und_Forschung/Broschueren_und_Ratgeber/Evaluation-WissZeitVG-AV-final.pdf

  6. „Und warum sollte das nicht direkt in eine Professur gesteckt werden, von der i.d.R. beide Seiten profitieren?“

    Ähem … und von der Arbeit des Mitarbeiters profitiert die Uni nicht? Wirtschaftlich gesehen stellt sich die Uni mit dem MA besser als mit dem Prof: In den 95.000 sind Rentenversicherungsbeiträge und VBL schon drin. In dem Moment, in dem er in Rente geht, kostet er das Land nix mehr. Anders der Prof. In der Umsetzung entspräche das dem US-amerikanischen System: Promotion in Graduate Schools (oder in D in einem strukturierten Programm), dann ein selbst eingeworbenes Fellowship, dann Associate Prof, dann Tenure. Spricht nix gegen.

    A long habit of not thinking a thing wrong, …

  7. Mir scheint, in den 95 Thesen ist (fast?) nur von Universitäten die Rede, aber sieht es an außeruniversitären Einrichtungen nicht mindestens genauso aus? Mir wurde gesagt, daß das mit der Unsicherheit und der Mobilität an Max-Planck-Instituten noch stärker ausgeprägt sei als an Unis.

    Ein anderer Punkt: Ich nehme diese Diskussion überwiegend, wenn nicht sogar ausschließlich, aus Richtung der Geisteswissenschaften wahr. Wie ist es denn zum Beispiel in den Naturwissenschaften? Ich weiß, daß dort die Situation im Grunde die gleiche ist (Kettenbefristung, Unsicherheit, hohe Bereitschaft der Arbeit hinterherzuziehen). Aber aus diesem Lager laufen mir (beim lesen im Web) kaum Klagen oder Beiträge über den Weg.

    Ich erkenne in #95vsWissZeitVG durchaus die Anspielung auf Luther, aber mußten es wirklich 95 sein? Das sind schon viele, was einer effizienten Kommunikation eines Anliegens prinzipiell nicht unbedingt zuträglich ist. Abgesehen davon ist es bei der großen Zahl nicht einfach, Wiederholungen zu vermeiden, was hier auch sichtbar wird und die Argumente irgendwo angreifbar macht und schwächt. Ein paar der Thesen kann ich auch nicht ganz nachvollziehen, manche verstehe ich überhaupt nicht.

    Nicht das man mich jetzt falsch versteht: Ich halte das derzeitige System auch für krass überholungsbedürftig, und den allergrößten Teil der 95 Thesen für richtig. Ich wäre gerne nach dem Studium in die Wissenschaft gegangen, aber die Unwägbarkeiten und irgendwo auch die finanziellen Aussichten haben mich abgeschreckt, was mich heute noch immer wieder frustriert. Von daher bin ich froh, daß es dieses Engagement gibt. Leider sieht es nicht danach aus, als würde sich die Situation sehr bald grundlegend ändern. Es ist ja nicht mit der bloßen Abschaffung des WissZeitVG getan.

    1. Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar! Die Thesen sind das Ergebnis einer Twitterdiskussion. Wir haben die Thesen der Beteiligten zusammengefasst und redaktionell bearbeitet. Zur besseren Lesbarkeit gibt es die Themenblöcke und Zwischenüberschriften.
      In der Tat wird die Diskussion vorrangig von den Geisteswissenschaften getragen. Wir wissen allerdings auch aus diversen Gesprächen, dass dies in den Naturwissenschaften ähnlich ist. Das wird auch durch einen Erfahrungsbericht in dem Buch zu sehen sein, an dem wir gerade arbeiten.
      Und natürlich ist das WissZeitVG nur ein Puzzleteil von vielen. Wir arbeiten ja an diversen Stellen. Wichtig ist auch, an der Finanzierung anzusetzen, wozu auch das Personalmodellepapier von NGAWiss Rechnungen präsentiert.

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